Aufgaben und Ziele des Faches
Im Rahmen des Bildungsauftrags der Gesamtschule in der Sekundarstufe I erschließt Religionsunterricht die religiöse Dimension der Wirklichkeit und des eigenen Lebens und trägt zur religiösen Bildung der Schülerinnen und Schüler bei. Er wird in Übereinstimmung mit den Grundsätzen und Lehren der jeweiligen Religionsgemeinschaft erteilt.
Der evangelische Religionsunterricht eröffnet in diesem Rahmen einen eigenen Horizont des Weltverstehens, der für den individuellen Prozess der Identitätsbildung und für die Verständigung über gesellschaftliche Grundorientierungen unverzichtbar ist. Er tut dies in Gestalt der dialogischen Auseinandersetzung mit existenziellen Grundfragen und dem Phänomen Religion in seinen vielfältigen Erscheinungsformen und Facetten. Im Mittelpunkt der Erschließungs-, Deutungs- und Urteilsprozesse steht dabei der christliche Glaube in seiner evangelischen Ausprägung.
Die dialogische Auseinandersetzung mit der religiösen Dimension der Wirklichkeit geschieht im evangelischen Religionsunterricht in einer Perspektive, die auf die konkrete Gestalt, Praxis und Begründung des christlichen Glaubens in seiner evangelischen Ausprägung bezogen ist. Diese Perspektive ist durch ein Verständnis des Menschen und seiner Wirklichkeit geprägt, das in der biblisch bezeugten Geschichte Gottes mit den Menschen gründet. Sie schließt ausdrücklich die jüdischen Wurzeln dieser Geschichte ein und leitet sich aus der Auslegung von Leben, Botschaft, Tod und Auferweckung Jesu Christi ab. Dieses Verständnis des Menschen und seiner Wirklichkeit wird in reformatorischer Tradition durch die Grunderfahrung akzentuiert, die als Rechtfertigung „allein aus Gnade“ und „allein durch den Glauben“ beschrieben wird und den Einzelnen unmittelbar zu Gott sieht. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass der Mensch den Grund, den Sinn und das Ziel seiner Existenz allein Gott verdankt und darum sich und sein Leben nicht selbst rechtfertigen und behaupten kann und muss. Das Angenommensein von Gott befreit den Menschen und befähigt ihn zu einem Leben in Verantwortung. Seine Sozialität verweist den Menschen zugleich auf die haltgebende Gemeinschaft der Glaubenden. Die Vermittlung dieser Perspektive eröffnet einen Raum, in dem Schülerinnen und Schüler die Tragweite des christlichen Glaubens in einer Lebenswelt und einem historischen, kulturellen und sozialen Kontext kennenlernen und erproben können, der von religiöser und weltanschaulicher Pluralität und der Auseinandersetzung konkurrierender Deutungen gekennzeichnet ist.
Der evangelische Religionsunterricht achtet die unverfügbaren persönlichen Glaubensüberzeugungen der Schülerinnen und Schüler und ist offen für ihre unterschiedlichen religiösen und weltanschaulichen Grundorientierungen. Gerade deshalb ist er offen für alle Schülerinnen und Schüler, die an ihm teilnehmen wollen bzw. deren Eltern dies wünschen. In diesem Sinn sichert der evangelische Religionsunterricht nach Art. 7 GG in Verbindung mit Art. 4 GG das Recht auf positive Religionsfreiheit des Einzelnen. Seine konfessionelle Ausrichtung wird durch die Konfessionalität der Lehrkräfte, ihre kirchliche Unterrichtserlaubnis und den Kernlehrplan gewährleistet.
Im Rahmen seines Auftrags stellt sich der evangelische Religionsunterricht der Aufgabe, Schülerinnen und Schüler mit religiösen Phänomenen, religiösen Deutungen und religiöser Praxis zu konfrontieren und sie dafür wahrnehmungsfähig zu machen. Er führt in die Grundlagen christlichen Glaubens in evangelischer Prägung ein, eröffnet Raum für die Begegnung und Auseinandersetzung mit kirchlichen Institutionen und anderen Formen gemeinschaftlich gelebten Christentums und leistet einen spezifischen Beitrag zu den Entwicklungsaufgaben im Jugendalter. Die Schülerinnen und Schüler setzen sich mit anderen über unterschiedliche Deutungen von Wirklichkeit und Lebensentwürfen auseinander und lernen sich zu verständigen sowie exemplarisch an der Gestaltung der religiösen Dimension ihres Lebensumfeldes mitzuwirken und eine eigene religiöse Identität auszubilden. In diesem Sinn erwerben die Schülerinnen und Schüler im evangelischen Religionsunterricht die Kompetenz, wahrzunehmen, zu deuten, zu urteilen, zu gestalten und sich mit anderen zu verständigen. Sie eignen sich ein grundlegendes Repertoire fachlicher Methoden an, das ihnen ermöglicht, in angemessener Weise und zunehmend selbstständig mit religiösen Phänomenen umzugehen. Darüber hinaus trägt insbesondere auch der Religionsunterricht im Rahmen der Kompetenzentwicklung innerhalb der von allen Fächern zu erfüllenden Querschnittsaufgaben zur Sensibilisierung für unterschiedliche Geschlechterperspektiven, zur Werteerziehung, zum Aufbau sozialer Verantwortung, zur Gestaltung einer demokratischen Gesellschaft, zur nachhaltigen Entwicklung und Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen, zur kulturellen Mitgestaltung, zum interkulturellen Verständnis sowie zur Lebensplanung und Berufsorientierung bei. Kompetenzerwartungen werden zu diesen Aufgaben, wie auch zu den für den Religionsunterricht in besonderer Weise konstitutiven personalen und sozialen Kompetenzen in Kapitel 2 nicht gesondert ausgewiesen, da der Aufbau und die Entwicklung dieser Kompetenzen eine Aufgabe aller Fächer darstellt und fächerübergreifenden Richtlinien vorbehalten ist. Operationalisierbare und überprüfbare Kompetenzerwartungen können ohnehin die Vieldimensionalität des Religionsunterrichts nicht vollständig abbilden; gleichwohl geht es im schulischen Religionsunterricht auch darum, verbindliche Kompetenzen zu erwerben und ihr Erreichen zu überprüfen.
Religiöse Bildung geschieht im evangelischen Religionsunterricht an fachlich unverzichtbaren Inhalten, die aus dem Bildungsauftrag, den Leitzielen, der spezifischen Perspektive des Faches und seiner dialogischen Anlage abgeleitet werden. Die Inhalte konstituieren sich durch die Verschränkung und wechselseitige Erschließung der Erfahrungen und Fragen der Schülerinnen und Schüler mit theologischen, religiösen und weltanschaulichen Deutungen der Wirklichkeit. In diesem Sinn werden zentrale Inhalte des christlichen Glaubens in seiner evangelischen Ausprägung in ihrer Bedeutung für den Menschen im Horizont seines Gottes-, Selbst- und Weltbezuges zu Gegenständen des Unterrichts.
Der Erwerb religiöser Bildung muss mit einer fachbezogenen Sprachförderung verknüpft werden. Kognitive Prozesse des Umgangs mit Fachwissen, der methodischen Fähigkeiten und der Beurteilung und Bewertung von religiösen Sachverhalten und Problemstellungen sind ebenso sprachlich vermittelt wie die Präsentation von Lernergebnissen und der kommunikative Austausch darüber. Solche sprachliche Fähigkeiten entwickeln sich nicht naturwüchsig auf dem Sockel alltagssprachlicher Kompetenzen, sondern müssen gezielt in einem sprachsensiblen Fachunterricht angebahnt und vertieft werden. Insbesondere diejenigen Schülerinnen und Schüler, die in ihren Familien wenig Kontakt zur schriftsprachlichen Kultur haben und/oder mit einer anderen Sprache als Deutsch aufgewachsen sind, bedürfen auch im Religionsunterricht der besonderen sprachlichen Förderung und Unterstützung, weil sie sonst das unterrichtliche Lernangebot nicht erfolgreich nutzen können.