1 Aufgaben und Ziele des Faches
Die Fächer des gesellschaftswissenschaftlichen Aufgabenfeldes leisten einen gemeinsamen Beitrag zur Entwicklung von Kompetenzen, die das Verstehen der Wirklichkeit sowie gesellschaftlich wirksamer Strukturen und Prozesse ermöglichen und die Mitwirkung in demokratisch verfassten Gemeinwesen unterstützen sollen. Gemeinsam befassen sie sich mit den Möglichkeiten und Grenzen menschlichen Denkens und Handelns im Hinblick auf die jeweiligen individuellen, gesellschaftlichen, zeit- und raumbezogenen Voraussetzungen, Bedingungen und Auswirkungen. Durch die Vermittlung gesellschaftswissenschaftlich relevanter Erkenntnis- und Verfahrensweisen tragen sie in besonderer Weise zum Aufbau eines Orientierungs-, Deutungs-, Kultur- und Weltwissens bei. Dies fördert die Entwicklung einer eigenen Identität sowie die Fähigkeit zur selbstständigen Urteilsbildung und schafft damit die Grundlage für das Wahrnehmen eigener Lebenschancen sowie für eine reflektierte Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten.
Innerhalb der von allen Fächern zu erfüllenden Querschnittsaufgaben tragen insbesondere auch die Fächer des gesellschaftswissenschaftlichen Aufgabenfeldes im Rahmen der Entwicklung von Gestaltungskompetenz zur kritischen Reflexion geschlechter- und kulturstereotyper Zuordnungen, zur Werteerziehung, zur Empathie und Solidarität, zum Aufbau sozialer Verantwortung, zur Gestaltung einer demokratischen Gesellschaft, zur Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen, auch für kommende Generationen im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung, und zur kulturellen Mitgestaltung bei. Darüber hinausleisten sie einen Beitrag zur interkulturellen Verständigung, zur interdisziplinären Verknüpfung von Kompetenzen, auch mit sprach- und naturwissenschaftlichen Feldern, sowie zur Vorbereitung auf Ausbildung, Studium, Arbeit und Beruf.
Diesen Beitrag leistet das Fach Geschichte insbesondere durch die systematische Analyse von historischen Bezügen und Prozessen, in die Menschen immer eingebunden sind. Fachlich geht es also im Kern um die exemplarisch an historischen Gegenständen zu gewinnende Erkenntnis, dass das gesamte Umfeld des Menschen vom Nahbereich bis hin zu den großen Systemen von internationalen Organisationen, Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur in komplexen historischen Prozessen entstanden ist und ständigem Wandel unterliegt.
Für das Fach charakteristisch ist historisches Denken, welches dadurch geprägt ist, dass Historie immer narrative Struktur hat. Konstitutiv für historisches Denken ist deshalb die „(Re-) Konstruktion“, also die Formulierung historischer Fragen, sowie die Ermittlung von Vergangenem und deren synchrone oder diachrone deutende Verbindung zu historischen Zusammenhängen als Kontexte oder Entwicklungen. Zu historischem Denken gehört auch die „Dekonstruktion“ vorhandener historischer Orientierungsangebote, also in Narrationen enthaltener Deutungen und Beschreibungen, wie sie den Schülerinnen und Schülern in den Angeboten der Geschichtskultur entgegentreten. Historisches Denken ist geprägt durch Multiperspektivität und die Beachtung historischer Qualitätskriterien (Triftigkeit historischer Narrationen), die den fachlichen Anspruch der jeweils erzählten Geschichte sichern.
Durch die reflektierte Auseinandersetzung mit historischen Ereignissen, Personen, Prozessen und Strukturen gewinnen die Schülerinnen und Schüler Einsichten in die Komplexität geschichtlicher Prozesse, in Dauer und Wandel, in Gleichzeitigkeit und Ungleichzeitigkeit, in Beharrung, aber auch Veränderbarkeit von Ordnungen mit ihren Chancen und Risiken, in das wechselseitige Bedingungsverhältnis von Person und Struktur. Sie erkennen die Faktoren und Wirkungszusammenhänge, die zum Verständnis und zur Erklärung von Gegenwartsphänomenen erforderlich sind, und erfassen so das Gewordensein der gegenwärtigen Welt. Das Fach Geschichte schafft außerdem Einsichten in jene Existenzformen und Denkvorstellungen früherer Epochen oder anderer Kulturen, welche nicht unmittelbar mit unserer Gegenwart verbunden sind. Die reflektierte Auseinandersetzung mit dem Anderssein bewirkt in Kenntnis der Alternativen zum „Hier und Jetzt“ eine kritische Distanz, somit die Einsicht in die historische Gebundenheit des eigenen Standortes, und den Gewinn neuer Handlungsperspektiven. Durch die analytische Durchdringung der Wirklichkeit mit ihren gesellschaftlich gewordenen und wirksamen Strukturen schafft das Fach Geschichte personale und soziale Orientierung der Schülerinnen und Schüler und befähigt sie zur kompetenten Teilhabe am gesellschaftlichen Umgang mit Geschichte, an der Geschichts- und Erinnerungskultur, sowie zur aktiven Mitwirkung und Mitgestaltung unseres demokratischen Gemeinwesens.
Die Aufgaben des Geschichtsunterrichts sind fokussiert im Auftrag der Förderung eines reflektierten Geschichtsbewusstseins. Geschichtsbewusstsein meint die Verschränkung der Wahrnehmungen und Deutungen von Vergangenheit mit Gegenwartserfahrungen und Zukunftserwartungen. Das angestrebte Geschichtsbewusstsein wird als reflektiert gekennzeichnet, um zu betonen, dass es sich des Konstruktionscharakters von Geschichte, seiner eigenen Standortgebundenheit und Perspektivität bewusst sein soll. Die Beherrschung der Fähigkeiten zur sinnbildenden Darstellung von Geschichte sowie zur Analyse und Beurteilung historischer Narrationen charakterisieren ein reflektiertes Geschichtsbewusstsein. Ein reflektiertes Geschichtsbewusstsein steht somit gleichermaßen gegen „Identitätslosigkeit“ als auch verfestigte Geschichtsbilder. Es leitet zu einem aktiven demokratischen Umgang mit konkurrierenden Identitäten an.
In der Einführungsphase befassen sich die Schülerinnen und Schüler mit zentralen historischen Fragestellungen. Sie erweitern und systematisieren ihre Kompetenzen zur Interpretation von Quellen und Analyse von Darstellungen, um so ein inhaltlich wie methodisch tragfähiges Fundament für die weitere Arbeit im Unterricht der Qualifikationsphase im Fach Geschichte zu legen.
Grundkurse im Fach Geschichte repräsentieren das Lernniveau der gymnasialen Oberstufe im Hinblick auf eine fundierte Allgemeinbildung und eine grundlegende wissenschaftspropädeutische Ausbildung. Sie sollen in grundlegende Fragestellungen, Sachverhalte, Problemkomplexe und Strukturen einführen und wesentliche Arbeitsmethoden des Faches vermitteln.
Leistungskurse im Fach Geschichte zeichnen sich gegenüber den Grundkursen durch ein höheres Maß an Differenziertheit der angestrebten kognitiven Operationen und einen höheren angestrebten Grad vertiefter Reflexion aus. Umfang, Komplexität und Abstraktionsgrad der Kompetenzen sowie der Umfang der zugrunde liegenden Quellen und Darstellungen sind größer. Ferner wird in Leistungskursen im Vergleich zu Grundkursen ein höherer Grad an Selbstständigkeit in der Ausführung, Vernetzung und dem Transfer entsprechender Operationen erwartet.
Zusatzkurse berücksichtigen mindestens zwei der sieben Inhaltsfelder, aus denen die Lehrkräfte ausgehend von Lernendeninteressen, Schulprogrammschwerpunkten und aktuellen Ereignissen der Erinnerungskultur verschiedene Kompetenzerwartungen und inhaltliche Schwerpunkte des Kernlehrplans auswählen. Dabei werden alle vier Kompetenzbereiche des Fachs angemessen berücksichtigt.
Im bilingualen Unterricht werden neben den sachfachbezogenen Kompetenzen fachsprachliche und fachmethodische Kompetenzen auch in der Partnersprache sowie interkulturelle Kompetenzen entwickelt. Im Rahmen der in diesem Kernlehrplan ausgewiesenen Kompetenzerwartungen können ggf. inhaltliche Bezüge zu den Kulturen der jeweiligen Partnersprache hergestellt werden.