1 Aufgaben und Ziele des Faches
Im Rahmen des Bildungsauftrags der gymnasialen Oberstufe erschließt Religionsunterricht die religiöse Dimension des Lebens und trägt zur religiösen Bildung der Schülerinnen und Schüler bei. Er wird in Übereinstimmung mit den Grundsätzen und Lehren der jeweiligen Religionsgemeinschaft erteilt.
Im Rahmen des Bildungs- und Erziehungsauftrags der gymnasialen Oberstufe leistet der Unterricht in Jüdischer Religionslehre als ordentliches Lehrfach mit dem Ziel der religiösen Bildung seinen spezifischen Beitrag zur Erziehung des Menschen, zur Ermöglichung von Erkenntnisprozessen, zur Entwicklung der Persönlichkeit, zur Vermittlung von Sachwissen, zur Schulung von Methoden und Arbeitsweisen sowie zu verantwortlichem Verhalten in Gemeinde und Gesellschaft.
Innerhalb der von allen Fächern zu erfüllenden Querschnittsaufgaben trägt insbesondere auch der Religionsunterricht im Rahmen der Entwicklung von Gestaltungskompetenz zur kritischen Reflexion geschlechter- und kulturstereotyper Zuordnungen, zur Werteerziehung, zur Empathie und Solidarität, zum Aufbau sozialer Verantwortung, zur Gestaltung einer demokratischen Gesellschaft, zur Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen, auch für kommende Generationen im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung, und zur kulturellen Mitgestaltung bei. Darüber hinaus leistet er einen Beitrag zur interkulturellen Verständigung, zur interdisziplinären Verknüpfung von Kompetenzen, auch mit gesellschafts-, sprach- und naturwissenschaftlichen Feldern, sowie zur Vorbereitung auf Ausbildung, Studium, Arbeit und Beruf.
Die Inhalte des Faches Jüdische Religionslehre konstituieren sich durch die Verschränkung und wechselseitige Erschließung der biographisch-lebensweltlichen Erfahrungen und Fragen der Schülerinnen und Schüler mit weltanschaulichen und religiösen Deutungen der Wirklichkeit. In diesem Sinn werden zentrale Inhalte der jüdischen Religion im Rahmen des G“ttes-, Selbst- und Weltbezuges des Menschen zu Gegenständen des Unterrichts und legitimieren sich durch ihren Bezug zum Bildungsauftrag, den Leitzielen, der spezifischen Perspektive des Faches und seinem dialogischen Selbstverständnis.
Jüdische Religionslehre bedeutet Vorbereitung auf einen nie abgeschlossenen Lernprozess in allen Persönlichkeitsbereichen. Das selbstverantwortliche Individuum, das als Ebenbild G“ttes angelegt und berufen ist, erhält Hilfe seine G“ttesebenbildlichkeit nach besten Kräften zu entwickeln.
Die Förderung des Lernens und Arbeitens erhält in der Oberstufe neben dem allgemeinen Beitrag eine fachspezifisch eigene Ausrichtung
- im Umgang mit dem TaNaCh und jüdischer Tradition,
- in der Deutung historischer Ereignisse und Quellen, die vom Judentum mitbestimmt sind oder das Judentum prägen sowie
- in der Verarbeitung von Fragen und Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler.
Dabei ist das Spezifische das Lernen und Umgehen mit der Tora und die Verknüpfung der Tradition mit der konkreten Wirklichkeit, den persönlichen Erfahrungen, Fragestellungen und Problemen des Einzelnen. Im Zentrum steht die Auseinandersetzung mit den Ge- und Verboten der Tora und ihrer Auslegungs- und Wirkungsgeschichte, fußend auf den in der Sekundarstufe I erworbenen Kenntnissen.
Auf der Grundlage gesicherter Wissensbestände und grundlegender Kompetenzen aus der Sekundarstufe I ist die Arbeit in der gymnasialen Oberstufe durch eine höhere Komplexität der Prozesse und Gegenstände gekennzeichnet. Der Reflexion sowie der Eigenständigkeit des Arbeitens kommt zunehmend besondere Bedeutung zu. Zu Beginn der gymnasialen Oberstufe, in der Einführungsphase, wird die Grundlage für den Umgang mit der Tora geschaffen. Die Schülerinnen und Schüler entwickeln später die erworbenen Kompetenzen in der Qualifikationsphase weiter, um am Ende der Oberstufe bewusst und differenziert mit der Vielfalt jüdischer Tradition und Identität umgehen zu können. Das beinhaltet, dass sie in der Lage sind, immer wieder neu Fragen an das eigene Handeln, Fühlen, Denken und Sein zu stellen. Die Jahrtausende lange, individuelle und kollektive Auseinandersetzung mit der Tora und ihren Auslegungsmöglichkeiten hat die Religion und Kultur des zahlenmäßig so kleinen jüdischen Volkes lebendig gehalten und facettenreiche individuelle wie kollektive jüdische Identitäten geprägt. Der Talmud und die Auseinandersetzung mit ihm spielen in diesem Kontext eine wichtige Rolle. Darüber hinaus bedeutet das auch die Beschäftigung mit der „Responsenliteratur“ bis in die Gegenwart.
Im offenen, fragenden Umgang mit Tradition und gegenwärtiger Wirklichkeit erschließt sich die eigene Existenz als Jüdin bzw. Jude und eröffnet sich Dialog und Auseinandersetzung mit der Geschichte der Einheit von Volk und Religion sowie mit anderen Religionen, Weltanschauungen und weiteren Deutungen von Welt und Mensch sowie mit anderen Kulturen. Dialog und Auseinandersetzung mit anderen Weltanschauungen und Religionen sind nach der Konzeption des Kernlehrplanes nicht nur als zusätzliche Kategorie an die Inhalte des jüdischen Religionsunterrichts heranzutragen, sondern sind bereits in der Entwicklungsgeschichte der jüdischen Religion identifizierbar. Die Schülerinnen und Schüler sollen demzufolge ein vertieftes Verständnis der jüdischen Religion im Zusammenhang jüdischer Kultur in Geschichte und Gegenwart entwickeln und sich in der Vielfalt heutiger Denk- und Glaubensrichtungen zurechtfinden können. Sie artikulieren und reflektieren menschliche Grunderfahrungen und sind in der Lage, sich im Kontext wissenschaftlicher und religiöser Erkenntnisse und kulturgeschichtlicher Zeugnisse mit anderen Religionen, Konfessionen und Weltanschauungen auseinanderzusetzen. Schülerinnen und Schüler können in dem so eröffneten und so erweiterten Horizont Identifikationsangebote im Blick auf die persönliche Existenz, die geschichtlichen Gegebenheiten und die gesellschaftlichen Erfordernisse erkennen und sind im Hinblick auf die Bildung jüdischer Identität zu begründeter Entscheidung fähig.
Die Lernsituation im Jüdischen Religionsunterricht ist wesentlich durch die gesellschaftliche Situation der Juden in Deutschland, durch die Biografien der jüdischen Kinder und die schulische Situation für jüdische Schülerinnen und Schüler geprägt. Nur in den Städten mit größeren jüdischen Gemeinden können bisher in der Sekundarstufe I und der Sekundarstufe II – meist zentral für Schülerinnen und Schüler aus mehreren Schulen und der Umgebung – Klassen und Kurse für den Unterricht in Jüdischer Religionslehre eingerichtet werden. In der Regel geschieht dies außerhalb der üblichen Unterrichtszeiten und unter besonderen Bedingungen, z.B. im Hinblick auf das Gemeinschaftsgefühl oder die spezifischen Interaktionsformen.
Religionsunterricht bietet die Chance, integrativ zu wirken, und ermöglicht es den Jugendlichen, aktiv an einem jüdischen Gemeindeleben teilzunehmen.
Da ein Teil der Schülerinnen und Schüler im Religionsunterricht der Grundschule beziehungsweise der Sekundarstufe I fachliche Kompetenzen erworben haben, andere Schülerinnen und Schüler aber erst in der Sekundarstufe II in den jüdischen Religionsunterricht einsteigen oder als Seiteneinsteiger nach Zuwanderung ohne ausgeprägte Sprachkompetenz hinzukommen, sind die Lerngruppen sehr heterogen. Dies gilt zum einen für Vorkenntnisse und sprachliches Vermögen, zum anderen aber auch für die Arbeitsformen, die im Unterricht Anwendung finden.
Auf diese unterschiedlichen Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler muss im Unterricht Rücksicht genommen werden. So können die Lehrkräfte in der Einführungsphase Kompetenzen, die bereits von Schülerinnen und Schülern in der Sekundarstufe I erlangt wurden, nicht bei allen Schülerinnen und Schülern voraussetzen. Es kann daher z.B. notwendig sein, die hebräische Lesekompetenz in der Einführungsphase besonders zu fördern.
Der Unterricht fördert den Entwicklungsprozess der Jugendlichen auf der Suche nach der eigenen jüdischen Identität. Dazu gehört die Aufnahme der Vergangenheit – der allgemeinen und individuellen Geschichte –, das heutige Verständnis des Judeseins in der örtlichen Gemeinde und darüber hinaus die Einbindung in die durch Pluralität und Individualisierung bestimmte Gesellschaft.
Der Unterricht in Jüdischer Religionslehre ist offen für alle Schülerinnen und Schüler, die daran teilnehmen wollen, allerdings bedarf es der sorgfältigen Beratung über die Voraussetzungen, Ziele und Möglichkeiten des Unterrichts. In Bezug auf Ziele, Gegenstände und Methoden ist das Fach vielfältig mit allen anderen Fächern verknüpft, in besonderer Weise im Bereich der Sinn-, Wert- und Wahrheitsfragen.
Als eine methodische Kompetenz im jüdischen Religionsunterricht ist eine elementare sprachliche Kompetenz im Hebräischen erforderlich. Der Bedeutung und Rolle der hebräischen Sprache im jüdischen Religionsunterricht entspricht es, dass jedes mögliche Thema darauf angewiesen ist, das lebendige Erbe hebräischer Tradition auch sprachlich zu erschließen. Hebräische Sprache ist im jüdischen Religionsunterricht kein Selbstzweck, sondern immer mit einem religiösen Inhalt verbunden. Für das Erschließen der Bedeutung von Texten und Vorstellungen ist der Rückgriff auf die für Interpretation offene hebräische Text-Gestalt wesentlich.
In der Einführungsphase stehen dabei drei inhaltliche Schwerpunkte aus drei Inhaltsfeldern im Zentrum der Erschließung. Es werden fundamentale Fragen des Faches geklärt sowie grundlegende Voraussetzungen für die vertiefende Bearbeitung aller sechs Inhaltsfelder in der Qualifikationsphase geschaffen.
Grundkurse führen in grundlegende Fragestellungen, Sachverhalte, Problemkomplexe, Strukturen und Arbeitsmethoden des Faches ein. Sie lassen Zusammenhänge im Fach und über dessen Grenzen hinaus in exemplarischer Form erkennbar werden. In Verknüpfung mit zentralen Inhalten vermitteln sie grundlegende fachbezogene Kompetenzen.
Ein wesentliches Charakteristikum der Leistungskurse besteht in der methodisch und inhaltlich vertieften und erweiterten Auseinandersetzung mit den fachlichen Gegenständen, die zu einem Kompetenzerwerb auf höherem Niveau führt. Der Zeitrahmen eröffnet auch zusätzlichen Raum für Formen projektorientierten Arbeitens, für eine Ausweitung selbsttätigen Lernens und eine Auseinandersetzung mit der hebräischen Sprache.