Beeinträchtigungen des Lernens
Lernschwierigkeiten sind fast immer Bestandteil von Lernprozessen. Sie „entstehen jeweils an der Anforderungsschwelle von aktuell vorhandenen Fähigkeiten und erwarteten, noch zu erwerbenden Kompetenzen. Insofern basiert der Begriff der Lernschwierigkeiten auf einer grundlegenden Orientierung an Kompetenzen, ohne die pädagogisch zentrale Frage nach Unterstützungsbedarf aus dem Blick zu verlieren“ (Heimlich/Hillenbrand/Wember 2016, S. 10).
Ist die Diskrepanz zwischen aktuellen Leistungsvoraussetzungen und den gestellten Leistungserwartungen zu hoch, werden die Lernschwierigkeiten gravierend und können, abhängig von weiteren personellen, soziokulturellen und institutionellen Bedingungen einen sonderpädagogisch begründeten Unterstützungsbedarf im Lernen nach sich ziehen (vgl. Abb.1).
(© Christine Einhellinger, Stephan Ellinger, Oliver Hechler, Anette Köhler, Edwin Ullmann (2013): Studienbuch Lernbeeinträchtigungen. Band 1: Grundlagen. Oberhausen: ATHENA-Verlag. S. 22)
Der Unterschied zu Schülerinnen und Schülern mit einer Geistigen Behinderung liegt in der Komplexität dieses Phänomens. „Geistige Behinderung ist ein Sammelbegriff für ein Phänomen mit oft lebenslangen, aber verschiedenen Äußerungsformen einer unterdurchschnittlichen Verarbeitung kognitiver Prozesse und Problemen mit der sozialen Adaption“ (Stöppler zitiert von Fornefeld in der Publikation des MSW zu den Förderschwerpunkten, 2016, S. 48).
weiterlesen ...
Die Schülergruppe, die hier angesprochen wird ist äußerst heterogen. Sie umfasst sowohl Schülerinnen und Schüler mit schweren Mehrfachbehinderungen als auch Lerner, die annähernd im Förderschwerpunkt Lernen gefördert werden können.
„Bei allen Schwierigkeiten, dabei exakte Grenzziehungen vornehmen zu können, besteht doch Konsens darüber, daß geistige Behinderung gekennzeichnet ist durch starke Beeinträchtigungen in den Bereichen des Intelligenz- und des sozial-adaptiven Verhaltens, in deren Folge betroffene Menschen lebenslanger pädagogischer und sozialer Unterstützung bedürfen“ (Kuhl 2011, S. 9).
Kuhl ergänzt diese Definition noch um den Aspekt der Kontextabhängigkeit: Eine geistige Behinderung ist das Ergebnis der Interaktion sozialer Faktoren und medizinisch beschreibbarer Störungen.
Die Etikettierung als lernbeeinträchtigt oder geistig behindert ermöglicht keine direkten Rückschlüsse auf den individuellen Lern- und Entwicklungsbedarf. Es gilt die individuellen Lernvoraussetzungen zu erheben und kompetenzorientiert bzw. ressourcenorientiert sowohl für das fachliche Lernen als auch die Entwicklungsbereiche zu beschreiben.
Soziokulturelle Bedingtheit
Der Aspekt der soziokulturellen Bedingtheit der Lernbeeinträchtigung spielt für den Bereich der schulischen Förderung eine wichtige Rolle. Im Hinblick auf die Auswahl Lebenswelt bedeutsamer Unterrichtsgegenstände ist nicht außer Acht zu lassen, dass eine überproportionale Häufigkeit von Schülerinnen und Schülern mit Beeinträchtigungen im Lernen aus armen, sozial randständigen Familien stammen (Ellinger 2013, S.27; Werning und Lütje-Klose 2016, S. 60 f.; Heimlich, Hillenbrand, Wember 2016, S. 11).
Die Ausprägung für den schulischen Lernerfolg wichtiger Strategien wie z.B. der Planungskompetenz kann auch auf mangelnde Anreize im außerschulischen Umfeld zurückgeführt werden. Dominiert statt aktiver Planung von Freizeit die Verplanung durch andere (z.B. Betreuungsinstanzen, Medien), bestehen keine Anreize und Möglichkeiten diese Kompetenz zu erwerben (vgl. Werning und Lütje-Klose 2016, S. 60).
Modell der guten Informationsverarbeitung
Um die besonderen Bedürfnisse von Schülerinnen und Schülern mit Lernbeeinträchtigungen zu beschreiben, bietet sich das Modell der guten Informationsverarbeitung an. Es bietet Ansatzpunkte für eine individuelle Diagnostik der Lernvoraussetzungen und ermöglicht die Ableitung von grundlegenden Prinzipien ressourcenorientierter Lernförderung, die zur Gestaltung einer förderlichen Lernumgebung genutzt werden können (Kuhl 2016, S. 55f.). Unter der Überschrift „Lernförderung“ werden Impulse zur Gestaltung förderlicher Lernumgebungen dargestellt.
Pädagogische Ausgangslage von Lernern im Förderschwerpunkt Lernen gemäß KMK-Empfehlung
„Die pädagogische Ausgangslage von Kindern und Jugendlichen mit Beeinträchtigungen des Lern- und Leistungsverhaltens, insbesondere des schulischen Lernens, stellt sich vielfach in Verbindung mit Beeinträchtigungen der motorischen, sensorischen, kognitiven, sprachlichen sowie sozialen und emotionalen Fähigkeiten dar. Diese können unmittelbare Auswirkungen auf alle grundlegenden Entwicklungsbereiche haben und zeigen sich vor allem
- in der Grob- und Feinmotorik,
- in Wahrnehmungs- und Differenzierungsleistungen,
- in der Aufmerksamkeit,
- in der Entwicklung von Lernstrategien,
- in der Aneignung von Bildungsinhalten,
- in Transferleistungen,
- im sprachlichen Handeln,
- in der Motivation,
- im sozialen Handeln,
- im Aufbau von Selbstwertgefühl und einer realistischen Selbsteinschätzung.
Beeinträchtigungen in den genannten Entwicklungsbereichen haben wiederum Auswirkungen auf Denken, Orientierungsfähigkeiten sowie Einstellungen und Haltungen. Hierbei werden Ausmaß und Folgen einer Lernbeeinträchtigung insbesondere vom soziokulturellen Umfeld, von der Einstellung und dem Verhalten von Bezugspersonen, vor allem von Familienmitgliedern, beeinflusst.
Sonderpädagogische Förderung unterstützt und begleitet die Schülerinnen und Schüler durch möglichst frühzeitig einsetzende Hilfen. Dabei gilt es, soziokulturell bedingte Benachteiligungen und soziale Randständigkeit zu berücksichtigen sowie psychosoziale Verletzungen zu beachten. Auswirkungen von Beeinträchtigungen vor allem in den grundlegenden Bereichen der Lernentwicklung wie Denken, Gedächtnis, sprachliches Handeln, Wahrnehmung, Motorik, Emotionalität und Interaktion werden gemindert und durch Förderung individueller Stärken kompensiert“ ( S.3 f.).
Pädagogische Ausgangslage von Lernern im Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung gemäß KMK-Empfehlung
„Beeinträchtigungen in der geistigen Entwicklung haben insbesondere Auswirkungen auf
- das situations-, sach- und sinnbezogene Lernen,
- die selbständige Aufgabengliederung, die Planungsfähigkeit und den Handlungsvollzug,
- das persönliche Lerntempo sowie die Durchhaltefähigkeit im Lernprozeß,
- die individuelle Gedächtnisleistung,
- die kommunikative Aufnahme-, Verarbeitungs- und Darstellungsfähigkeit,
- die Fähigkeit, sich auf wechselnde Anforderungen einzustellen,
- die Übernahme von Handlungsmustern,
- die Selbstbehauptung und die Selbstkontrolle,
- die Selbsteinschätzung und das Zutrauen.
Sonderpädagogische Förderung hat daher die Aufgabe, jeder Schülerin und jedem Schüler Hilfen zur Entwicklung der individuell erreichbaren Fähigkeiten und Fertigkeiten zu geben. Hierbei müssen Körpererfahrungen gemacht und erweitert werden, Körperfunktionen beherrscht und senso- und psychomotorische Fähigkeiten und Fertigkeiten ausgebildet werden. Die Förderung schafft Gelegenheit, Wahrnehmung, Konzentration und Merkfähigkeit aufzubauen, Begriffe und Vorstellungen zu erwerben sowie Kreativität, Denken und Kommunikation zu entwickeln“ (S. 3f.).
Der Förderschwerpunkt Lernen gemäß AO-SF (Stand Juli 2016)
Die Ausbildungsordnung sonderpädagogische Förderung (AO-SF) umfasst die Rechtsvorschriften über die sonderpädagogische Förderung, den Hausunterricht und die Schule für Kranke. Die Bestimmungen zu Gemeinsamem Lernen, Inklusion und Vielfalt gelten für alle Bildungsgänge.
§ 4 Lern- und Entwicklungsstörungen
(Förderschwerpunkte Lernen, Sprache, Emotionale und soziale Entwicklung)
(1) Lern- und Entwicklungsstörungen sind erhebliche Beeinträchtigungen im Lernen, in der Sprache sowie in der emotionalen und sozialen Entwicklung, die sich häufig gegenseitig bedingen oder wech-
selseitig verstärken. Sie können zu einem Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung in mehr als einem dieser Förderschwerpunkte führen.
(2) Ein Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung im Förderschwerpunkt Lernen besteht, wenn die Lern- und Leistungsausfälle schwerwiegender, umfänglicher und langdauernder Art sind.
5. Abschnitt Zieldifferenter Bildungsgang Lernenen
§ 29 Förderschwerpunkt Lernen
(1) Der Unterricht im Förderschwerpunkt Lernen führt zum Abschluss des Bildungsgangs Lernen. In diesem Förderschwerpunkt ist der Erwerb eines dem Hauptschulabschluss gleichwertigen Abschlusses möglich.
(2) Für den Bildungsgang gelten die §§ 31 bis 37.
§ 31 Unterrichtsfächer, Stundentafeln
(1) Die Unterrichtsfächer und die Stundentafeln richten sich nach denen der Grundschule und der Hauptschule. § 28 Absatz 2 gilt entsprechend.
(2) Die Klassenkonferenz beschließt, ob sie für eine Schülerin oder einen Schüler die für das Fach Englisch in der Stundentafel vorgesehenen Stunden für dieses Fach oder für verstärkte Bildungsangebote in anderen Fächern der Stundentafel verwendet.
§ 32 Leistungsbewertung
(1) Die Leistungen der Schülerinnen und Schüler werden auf der Grundlage der im individuellen Förderplan festgelegten Lernziele beschrieben. Die Leistungsbewertung erstreckt sich auf die Ergebnisse des Lernens sowie die individuellen Anstrengungen und Lernfortschritte.
(2) Die Schulkonferenz kann beschließen, dass ab Klasse 4 oder ab einer höheren Klasse die Bewertung einzelner Leistungen von Schülerinnen und Schülern zusätzlich mit Noten möglich ist. Dies
setzt voraus, dass die Leistung den Anforderungen der jeweils vorhergehenden Jahrgangsstufe der Grundschule oder der Hauptschule entspricht. Dieser Maßstab ist kenntlich zu machen.
(3) Abweichend von Absatz 2 werden die Leistungen der Schülerinnen und Schüler im Bildungsgang gemäß § 35 Absatz 3 in allen Fächern zusätzlich mit Noten bewertet.
Der Förderschwerpunkt geistige Entwicklung gemäß AO-SF (Stand Juli 2016)
Die Ausbildungsordnung sonderpädagogische Förderung (AO-SF) umfasst die Rechtsvorschriften über die sonderpädagogische Förderung, den Hausunterricht und die Schule für Kranke. Die Bestimmungen zu Gemeinsamem Lernen, Inklusion und Vielfalt gelten für alle Bildungsgänge.
§ 5 Geistige Behinderung
(Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung)
Ein Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung im Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung besteht, wenn das schulische Lernen im Bereich der kognitiven Funktionen und in der Entwicklung der Gesamtpersönlichkeit dauerhaft und hochgradig beeinträchtigt ist, und wenn hinreichende Anhaltspunkte dafür sprechen, dass die Schülerin oder der Schüler zur selbstständigen Lebensführung voraussichtlich auch nach dem Ende der Schulzeit auf Dauer Hilfe benötigt.
Zieldifferenter Bildungsgang Geistige Entwicklung
§ 38 Unterricht
Der Unterricht fördert Kompetenzen in den Entwicklungsbereichen Motorik, Wahrnehmung, Kognition, Sozialisation und Kommunikation. Er erstreckt sich auf die Aufgabenfelder Sprache und Kommunikation, Mathematik, gesellschaftswissenschaftlichen und naturwissenschaftlichen Unterricht, Arbeitslehre, Bewegungserziehung/Sport, musisch-ästhetische Erziehung und Religiöse Erziehung/Ethik. Die Gewichtung der unterrichtlichen Angebote richtet sich nach den Bildungsmöglichkeiten der Schülerinnen und Schüler.
§ 40 Leistungsbewertung
Die Leistungen der Schülerinnen und Schüler werden ohne Notenstufen auf der Grundlage der im Förderplan festgelegten Ziele beschrieben. Die Leistungsbewertung erstreckt sich auf die Ergebnisse des Lernens sowie die individuellen Anstrengungen und Lernfortschritte.
§ 41 Versetzung, Zeugnisse
(1) Eine Versetzung findet nicht statt. Am Ende jedes Schuljahres entscheidet die Klassenkonferenz, in welcher Klasse die Schülerin oder der Schüler im nächsten Schuljahr gefördert werden wird.
(2) Die Schülerin oder der Schüler erhält am Ende jedes Schuljahres ein Zeugnis.
(3) Die Schülerin oder der Schüler erhält am Ende der Schulbesuchszeit ein Abschlusszeugnis, das die erworbenen Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten bescheinigt.
Online-Unterstützungsportal zum Referenzrahmen Schulqualität NRW
Der Dimension „2.6 – Schülerorientierung und Umgang mit Heterogenität“ sind im Referenzrahmen Schulqualität NRW die folgenden Kriterien zugeordnet:
- 2.6.1 Die Planung und Gestaltung des Lehrens und Lernens orientieren sich an den Schülerinnen und Schülern.
- 2.6.2 Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Schülerinnen und Schüler sind grundlegend für die pädagogisch-didaktische Planung und Gestaltung.
Im Online-Unterstützungsportal zum Referenzrahmen Schulqualität NRW befinden sich zu diesen Kriterien, Arbeitsmaterialien, Reflexionsbögen für Lehrerinnen/Lehrer, Schülerinnen/Schüler und Schulleitungen. Weiterführende Links auf Projekte, Portale und Praxisbeispiele liefern anschauliche Beispiele. Literaturhinweise runden das Angebot ab.
Literatur
- Einhellinger, Christine; Ellinger, Stephan u.a. (Hrsg.) (2013): Studienbuch Lernbeeinträchtigungen. Band 1: Grundlagen. Oberhausen: ATHENA-Verlag.
- Einhellinger, Christine; Ellinger, Stephan u.a. (Hrsg.): Studienbuch Lernbeeinträchtigung. Band 2: Handlungsfelder und Förderansätze. Oberhausen: Athena.
- Hasselhorn, Marcus; Gold, Andreas (2013): Pädagogische Psychologie. Stuttgart: Kohlhammer.
- KMK (2011): Inklusive Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in Schulen. Online verfügbar: http://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2011/2011_10_20-Inklusive-Bildung.pdf [06.06.2017]
- KMK (1999): Empfehlungen zum Förderschwerpunkt Lernen. Online verfügbar:
- http://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/PresseUndAktuelles/2000/sopale.pdf [06.06.2017]
- KMK (1998): Empfehlungen zum geistige Entwicklung. Online verfügbar:http://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/1998/1998_06_20_FS_Geistige_Entwickl.pdf [06.06.2017]
- Kuhl, Jan u.a. (Hrsg.) (2016): Evidenzbasierte Diagnostik und Förderung von Kindern und Jugendlichen mit intellektueller Beeinträchtigung. Bern: Hogrefe.
- Kuhl, Jan (2011): Konstruktionsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung. (Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophie des Fachbereiches Psychologie und Sportwissenschaft der Justus Liebig Universität Gießen)online verfügbar unter: http://geb.uni-giessen.de/geb/volltexte/2011/8196/pdf/KuhlJan_2011_05_05.pdf [18.07.2017]
- Lauth, Gerhard W.; Grünke, Matthias; Brunstein, Joachim C. (Hrsg.) (2004): Interventionen bei Lernstörungen. Göttingen: Hogrefe
- MSW (2016): Sonderpädagogische Förderschwerpunkte in NRW. auch online abrufbar unter:https://www.schulministerium.nrw.de/docs/Schulsystem/Inklusion/Kontext/06-Sonderpaedagogische_Schwerpunkte_in_NRW/index.html [14.07.2017]
- Ratz, Christoph (Hrsg.) (2011): Unterricht im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung. Oberhausen: ATHENA-Verlag.
- Sturny-Bossart, Gabriel und Ottiger-Bachmann, Anita (2014): Unterrichtssituationen mit Kindern mit unterschiedlicher intellektueller Leistungsfähigkeit: Lernbeeinträchtigungen und geistige Behinderung. in: Luder, Reto u.a. (Hrsg.): Inklusive Pädagogik und Didaktik. Publikationsstelle der PH Zürich. S. 138-152
- Terfloth, Karin; Cesak, Henrike (2016): Schüler mit geistiger Behinderung im inklusiven Unterricht. München: Ernst Reinhardt.
- Terfloth, Karin: Bauersfeld, Sören (2015): Schüler mit geistiger Behinderung unterrichten. München: Ernst Reinhardt.
- Werning, Rolf; Lütje-Klose, Birgit (2016): Einführung in die Pädagogik bei Lernbeeinträchtigungen. München: Ernst Reinhardt.