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Leseverstehen
Verstehend Lesen zu können ist innerhalb und außerhalb der Schule eine wichtige Kompetenz. Ausgehend von einem kognitionspsychologischen Lesebegriff, der allen aktuell Lesekompetenzmodellen zugrunde liegt, wird in den folgenden Ausführungen gezeigt, wie Aufgaben zum verstehenden Lesen gestaltet werden können und ein vertieftes Leseverstehen im Unterricht angeleitet werden kann. Außerdem werden Möglichkeiten vorgestellt, wie sich Schülerinnen und Schüler sich selbst als Leserinnen und Leser reflektieren können.
Die kognitionspsychologische Leseforschung unterscheidet drei Ebenen des Textverstehens.
- Die erste Ebene ist die der Textoberfläche, die aus Wörtern und Sätzen besteht. Wer beim Lesen lediglich eine Oberflächenrepräsentation des Texts gebildet hat, kann den Text zumindest theoretisch wiedergeben, allerdings ohne ihn verstanden zu haben.
- Die zweite Ebene des Textes besteht aus Propositionen, d.h. kleinsten Bedeutungseinheiten, die eine selbstständige, von anderen Bedeutungseinheiten unabhängige, Aussage treffen. Wer beim Lesen lediglich eine propositionale Textbasis konstruiert hat, besäße also ein rudimentäres Verständnis des Texts, hätte aber noch nicht richtig verstanden, worum es in dem Text geht, und könnte sich unter dem Gesagten auch noch nichts vorstellen.
- Auf der dritten Ebene ist eine mentale Repräsentation des Sachverhalts auf den sich der Text bezieht. In die Konstruktion dieses Modells geht neben den Informationen aus der Textbasis sachbezogenes Weltwissen mit ein. Mit der Konstruktion eines solchen mentalen Modells haben die Lesenden nicht nur verstanden, was gesagt wird, sondern sie können sich darunter auch „etwas vorstellen“. Sie wissen, was gemeint ist (Richter/Schnotz 2018).
Typen von Inferenzen beim Lesen
Damit Lesende eine solche mentale Repräsentation aufbauen kann, müssen sie Inferenzen bilden. Inferenzen sind Verstehensprozesse, mit denen Lesende über die explizit im Text enthaltenen Informationen hinausgehen. Inferenzen sind Verstehensprozesse, mit denen der Leser über die explizit im Text enthaltenen Informationen hinausgeht. Inferenzen sind immer ein Teil der Verstehensleistung bei Texten, weil grundsätzlich kein Text alle Inhalte und Relationen explizit macht. Man kann zwischen drei Typen von Inferenzen unterscheiden:
- logisch zwingende Inferenzen, die für das Verstehen des Textes unabdingbar sind und weitgehend automatisch beim Lesen ablaufen
- Brücken-Inferenzen, die Einzelinformationen verbinden
- elaborative Inferenzen, die den Textsinn explizit mit dem bereits verfügbaren Weltwissen, auch Vorwissen genannt, verbinden (Christmann, 2018, S. 174)
Damit Schülerinnen und Schüler bei der Textrezeption eine mentale Repräsentation entwickeln können, muss ihnen im Unterricht transparent gemacht werden, welche Lesestrategien sie dabei unterstützen wie z.B. Analogien ermitteln oder Schlussfolgerungen ziehen.
Der Lesekompetenzbegriff, der dem PISA-Modell zu Grunde liegt, beschreibt Lesen als Informationsverarbeitung zur Wissensaneignung. Damit bezieht er sich auf jede Form von kontinuierlichen und diskontinuierlichen Texten und ist nicht fachspezifisch ausgerichtet. Da das Modell aber die Teilleistungen des Leseverstehens darstellt, eignet es sich, um Aufgaben, die diese Teilleistungen ansteuern, zu entwickeln.
Grundlegend ist im PISA-Modell die Unterscheidung nach textimmanenten und wissensbasierten Verstehensleistungen. Wichtig ist zu betonen, dass das externe Wissen eines Lesers, sein Vorwissen, für das Textverständnis eines jeden Textes von Bedeutung ist. Um über den Inhalt eines Textes sowie seine Form zu reflektieren, müssen Lesende auf ihr Vorwissen zurückgreifen (siehe Modell d und e). Dieses Wissen umfasst dabei nicht nur reines Faktenwissen zum Textinhalt, sondern auch sein Wissen über Texte an sich, über verschiedene Textsorten und deren Gebrauch etc.
Damit aber die oben beschriebenen Verstehensleistungen von den Schülerinnen und Schülern erbracht werden können, müssen sie vorab ein allgemeines Textverständnis entwickelt haben, indem sie den Text als Ganzes betrachten, also z.B. den Text lesend überfliegen (siehe im Modell a). Unter allgemeinem Textverständnis ist hier zu fassen, dass die Lesenden ungefähr wissen, was das Thema oder der Gegenstand des Textes ist. Die Metapher „Überfliegen“ zeigt an, dass hier keine vertiefte Lektüre des Textes stattfindet, sondern nur einzelne Textteile wie Überschrift, Absätze, oder einzelne Sätze und Wörter erfasst werden. Auf dieser Basis können dann erst Einzelinformationen ermittelt werden (siehe im Modell b), Informationen aus dem Text miteinander in Beziehung gesetzt, Schlussfolgerungen gezogen und dadurch eine textbezogene Interpretation entwickelt (siehe im Modell c) werden. Der Begriff „Interpretation“ ist damit nicht gleichzusetzen mit dem schulsprachlichen Verständnis von Interpretation, sondern meint hier, dass die Lesenden die Relationen der Informationen, die in einem Text gegebenen sind, verstehen.
Für Entwicklung von eigenen Aufgaben bedeutet dies, dass es, um ein Textverständnis zu erzielen, Aufgaben geben muss, die auf alle fünf Teilleistungen des Lesens abzielen. Am Beispiel der Fabel „Der Hund und das Stück Fleisch“ soll diese Vorgehensweise illustriert werden.
Der Hund und das Stück Fleisch
Ein großer Hund hatte einem kleinen Hündchen ein dickes Stück Fleisch abgejagt. Mit seiner fetten Beute brauste der große Hund davon.
Als er aber über eine schmale Brücke lief, fiel sein Blick zufällig ins Wasser. Wie vom Blitz getroffen blieb er stehen und sah unter sich einen Hund, der gierig seine Beute festhielt.
"Der kommt mir zur rechten Zeit", knurrte der Hund auf der Brücke. "Mir scheint, der andere hat ein Stück Fleisch, das noch größer ist als das meinige."
Wild entschlossen stürzte sich der Hund kopfüber in den Bach und biss nach dem Hund, den er von der Brücke aus gesehen hatte. Das Wasser spritzte auf und der Hund spähte hitzig nach allen Seiten. Aber er konnte beim besten Willen den anderen Hund nicht mehr entdecken.
Da fiel dem Hund sein eigenes Stück Fleisch ein. Wo war es geblieben? Verwirrt tauchte er unter und suchte danach. Vergeblich! In seiner dummen Gier war ihm jetzt auch noch das Stück Fleisch verloren gegangen, das er schon sicher zwischen den Zähnen hatte.
Teilleistungen des Lesen nach PISA
Ein allgemeines Textverständnis entwickeln
Beispiel für mögliche Aufgabenformulierungen:
- Fasse in eigenen Worten zusammen, worum es in der Fabel geht.
- Formuliere andere Überschriften für die Fabel, die dir noch passender erscheinen.
- Begründe, wie passend du folgende alternative Überschriften für die Fabel findest:
- Der Hund verliert das Stück Fleisch
- Der arme kleine Hund
- Der große Hund geht baden
- Dumme Gier
- Großer Hund jagt kleinen Hund
Einzelinformationen ermitteln
Beispiel für mögliche Aufgabenformulierungen:
- Warum bleibt der Hund auf der Brücke stehen?
- Wer ist der andere Hund im Wasser?
- Erkläre, warum der große Hund in den Bach springt.
- Warum schaut der Hund sich hitzig nach allen Seiten um, als er im Wasser steht?
- Nenne/Markiere Textstellen, die zeigen, dass der große Hund unzufrieden ist.
Eine textbezogene Interpretation entwickeln
Beispiel für mögliche Aufgabenformulierungen:
- Welche Charaktereigenschaften hat der große Hund?
- Was meint der Hund mit der Aussage „der kommt mir zur rechten Zeit“?
- Erkläre die Eigenschaften des Hundes mit Hilfe einiger Textstellen: Durch welche Wörter im Text wird der Charakter besonders deutlich?
- Ist der Hund eher ruhig oder eher hektisch? Beantworte die Frage mit Hilfe einiger Textstellen.
- Begründe, ob sich der Hund anders verhalten hätte, wenn er erkannt hätte, dass er selbst der andere Hund im Waser war.
- Welche ähnlich ablaufenden Situationen unter Menschen kann es geben?
- Am Schluss der Geschichte denkt der Hund über sein Verhalten nach: Schreibe einige Sätze aus der Perspektive des Hundes.
Über den Inhalt eines Textes reflektieren
Beispiel für mögliche Aufgabenformulierungen:
- Ihr steht neben dem Hund auf der Brücke und beobachtet ihn. Was würdet ihr ihm sagen, um ihn vom Springen abzuhalten?
- Wie sehr könnt ihr es verstehen, dass der Hund sich ins Wasser stürzt?
- Über wen oder was denkst du besonders nach, nachdem du die Fabel gelesen hast?
- In welchen Situationen wollt ihr etwas haben, ohne zu sehen, was ihr eigentlich schon besitzt?
- Begründe, ob sich der Hund anders verhalten hätte, wenn er erkannt hätte, dass er selbst der andere Hund im Waser war.
- Welche ähnlich ablaufenden Situationen unter Menschen kann es geben?
- Am Schluss der Geschichte denkt der Hund über sein Verhalten nach: Schreibe einige Sätze aus der Perspektive des Hundes.
Über die Form eines Textes reflektieren
Beispiel für mögliche Aufgabenformulierungen:
- Erklärt, welche Formulierungen in der Fabel euer Interesse beim Lesen besonders geweckt haben.
- Beschreibt die Wirkung der Formulierung „In seiner dummen Gier…“: Worin unterscheidet sich dieser Satz von denen davor?
- Schreibt die Fabel um, indem ihr einen Menschen handeln lasst: Was ändert sich, was bleibt gleich?
Möglichkeit 1: Question-Answer-Relationship (QAR)
Es werden vier Arten von Fragen unterschieden, die die Lernenden an einen Text stellen:
- Fragen, die der Text direkt beantwortet. Ziel: einzelne Informationen ermitteln
- Fragen, die beantwortet werden können, indem Lesende Informationen aus unterschiedlichen Textabschnitten nutzen. Ziel:Informationen synthetisieren und Beziehungen verstehen
- Fragen, die auf der Basis des Textes UND des eigenen Vorwissens bzw. der eigenen Erfahrung beantwortet werden können. Ziel: Schlussfolgerungen ziehen
- Fragen, die nur auf der Basis des eigenen Vorwissens beantwortet werden können. Ziel: Gelesenes elaborieren, um es besser zu verstehen und weiterdenken
Beispiel:
Sehr beliebte Haustiere sind Bartagamen. Dies sind Reptilien, deren Pflege recht anspruchsvoll ist. Wenn man sich eine Bartagame als Haustier anschaffen will, muss man auf eine Wärmelampe und Kletter- sowie Versteckmöglichkeiten achten. Dadurch ist die Temperatur im Terrarium an verschiedenen Stellen unterschiedlich. Die Tiere können selbst wählen, welche Temperatur für sie am besten ist.
- Was benötigen Bartagamen im Terrarium?
- Warum ist eine Wärmelampe wichtig?
- Was unterscheidet Bartagamen von Hunden als Haustiere?
- Welche Gefahren für Bartagamen entstehen bei zu niedrigen Temperaturen?
Möglichkeit 2: Guided Reciprocal Peer Questioning
- Die Fragestämme sollen von den Lernenden genutzt werden, um eine textbasierte Diskussion vorzubereiten.
- Durch die einzelnen Fragen sollen bestimmte kognitive Prozesse ausgelöst werden.
- Fragestämme
- Erkläre, warum… / Erkläre, wie… .
Ausgelöste kognitive Prozesse: Analyse von implizit oder explizit dargestellten Prozessen und Konzepten.
- Was ist der Hauptgedanke…? / Welche Idee steckt hinter…?
Ausgelöste kognitive Prozesse: Identifikation des Hauptgedankens, der explizit oder implizit gegeben sein kann.
- Wie würdest du… nutzen, um…?
Ausgelöste kognitive Prozesse: Anwendung in anderen Zusammenhängen.
- Was wäre ein weiteres Beispiel für…?
Ausgelöste kognitive Prozesse: Elaborieren mit Hilfe des eigenen Vorwissens.
- Was, denkst du, würde passieren, wenn…?
Ausgelöste kognitive Prozesse: Vorhersagen machen auf der Basis des Gelesenen und des eigenen Vorwissens.
- Was ist der Unterschied zwischen… und…?
Ausgelöste kognitive Prozesse: Analyse von zwei Konzepten.
- Worin ähneln sich… und…?
Ausgelöste kognitive Prozesse: Analyse von zwei Konzepten.
- Welche Schlussfolgerungen kannst du aus… ziehen?
Ausgelöste kognitive Prozesse: Schlussfolgerungen ziehen.
- Wie wirkt sich… auf… aus?
Ausgelöste kognitive Prozesse: Beziehungen zwischen Informationen identifizieren.
- Was sind die Vor- und Nachteile von…?
Ausgelöste kognitive Prozesse: Analyse von Konzepten.
- Was erscheint an… am sinnvollsten/am logischsten und warum?
Ausgelöste kognitive Prozesse: Evaluation auf der Basis von Kriterien.
- Welche Verbindung gibt es zwischen… und dem, was du bereits über das Thema gelesen hast?
Ausgelöste kognitive Prozesse: Verknüpfung von neuem Wissen mit Vorwissen.
Material für die Schülerinnen und Schüler M01 (PDF, 103 KB)
Möglichkeit 1:
Ich lese, weil…
Die Lernenden vervollständigen die Sätze, „Ich lese, weil…“ so häufig sie wollen.
Ziel: Die Lernenden werden sich bewusst, welche Funktion das Lesen für sie hat.
Möglichkeit 2:
Wenn ich lese, dann …
Notiere, was beim Lesen mit deinem Körper passiert. Die Lernenden notieren rund um die lesende Figur was alles in ihren Körper passiert, wenn sie lesen und welche Körperteile sie zum Lesen brauchen. Möglich ist es auch verschiedene Lesemedien hier einzusetzen und zu vergleichen.
Ziel: Die Lernenden reflektieren, dass das Lesen nicht nur ein rein kognitiver Prozess ist, sondern auch ein körperlicher Prozess ist. Die Notizen können als Grundlage genutzt werden, um sich über das Lesen als Fertigkeit und Fähigkeit zu sprechen.
Möglichkeit 3:
Was ist für dich ein guter Platz zum Lesen?
Die Lernenden zeichnen oder beschreiben, was für sie ein guter Platz zum Lesen ist.
Ziel: In einem anschließenden Gespräch kann z.B. reflektiert werden, ob unterschiedliche Textsorten unterschiedliche Leseplätze brauchen und warum.
Material für die Schülerinnen und Schüler M02 (PDF, 115 KB)