1 Der Beitrag des Aufgabenfeldes Mathematik zur Bildung im zieldifferenten Bildungsgang Geistige Entwicklung
Bildung im zieldifferenten Bildungsgang Geistige Entwicklung ist angelegt in einem Dreiklang von Fachorientierung, Entwicklungsorientierung und Lebensweltbezug und zielt auf persönliche Entfaltung, eine selbstständige Lebensgestaltung und Partizipation in allen Lebensbereichen. Dies spiegelt sich in den Unterrichtsvorgaben für die Aufgabenfelder und die Entwicklungsbereiche.
Das Ziel des Unterrichts im Aufgabenfeld Mathematik ist es, individuelle elementare Fähigkeiten, Kenntnisse, Fertigkeiten und positive Werthaltungen zu entwickeln sowie die Freude an und Aufgeschlossenheit zur Mathematik und ihren mathematischen Phänomenen zu vermitteln. Im Mittelpunkt des Unterrichts steht eine Mathematik, die durch Ordnung und Strukturierung des eigenen Lebensbereichs, zur Erschließung der gegenwärtigen und zukünftigen Welt beiträgt.
Mathematische Erkenntnisse entwickeln sich in einem konstruktiven, entdeckenden Prozess. Die Schülerin oder der Schüler setzt sich aktiv mit einem mathematischen Problem auseinander und entdeckt Lösungswege und Zusammenhänge. Dabei ist es erforderlich, auf vorhandenes Wissen zurückzugreifen und dieses mit neuen Erkenntnissen zu vernetzen.
Kompetenzentwicklung im Mathematikunterricht
Grundsätzlich gestaltet sich die Kompetenzentwicklung im Mathematikunterricht für alle Schülerinnen und Schüler in allen Bildungsgängen nach gleichen fachlichen Entwicklungsmodellen. Gleichwohl sind im zieldifferenten Bildungsgang Geistige Entwicklung zusätzliche, spezifische Kompetenzen anzusteuern, die der Heterogenität der Schülerschaft gerecht werden. Basiskompetenzen stehen allen Schülerinnen und Schülern offen und bilden einen basalen und spezifischen elementaren Zugang zum mathematischen Erleben und Lernen. Sie bilden das Entwicklungsspektrum bis hin zu den für den Bildungsgang Primarstufe definierten Vorläuferfähigkeiten (z. B. simultane Mengenerfassung bis 4, einfache geometrische Formen erkennen). Ein Kompetenzerwerb, der basale Wahrnehmungsleistungen, elementare mathematische Basiskompetenzen, Vorläuferfähigkeiten bis hin zu einem tieferen Zahl-, Raum- und Größenverständnis berücksichtigt, ist im Unterricht an allen Lernorten jeder Schülerin und jedem Schüler zu ermöglichen. Damit wird den Bedürfnissen einer Schülerschaft mit einem außerordentlich breit gefächerten Spektrum an Lernvoraussetzungen Rechnung getragen.
Zum Unterricht
Der Weg zum Verständnis von Zahlen, Mengen und Operationen führt nicht allein über die intensive Auseinandersetzung mit pränumerischen Aktivitäten, sondern wird durch eine frühzeitige aktive Auseinandersetzung mit Mengen und Zahlen angebahnt. Der individuelle Lern- und Entwicklungsstand sowie der Entwicklungsverlauf jeder einzelnen Schülerin und jedes einzelnen Schülers, der nicht immer linear, teilweise parallel verläuft, bieten Orientierungspunkte für eine umfangreiche Differenzierung und Elementarisierung des Mathematikunterrichts. Mit Hilfe von Diagnoseinstrumenten und gezielten Beobachtungen erheben die Lehrkräfte die Lernstände, beurteilen darauf basierend die Lernentwicklung und evaluieren die Wirksamkeit der Unterrichtsarrangements und der Fördermaßnahmen.
Mathematische Phänomene sind Bestandteil des alltäglichen Lebens. Um diese in persönlichen Lebensumständen, Situationen und Verhältnissen wahrzunehmen und zu (be-)greifen, sind mathematische Kompetenzen hilfreich. Die Orientierung in Raum und Zeit sowie der Umgang mit Mengen, Zahlen, Operationen, Formen und Größen, bilden damit die Grundlage für eine erfolgreiche Alltagsbewältigung und aktive Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Die durch das eigene Erleben geprägten, ersten Vorstellungen von Größen, Mengen und Objekten, welche sich bereits in frühester Kindheit durch das Erkunden der näheren Umwelt entwickeln, werden mit dem Schuleintritt im Mathematikunterricht aufgegriffen. Der Unterricht knüpft somit an den unterschiedlichen individuellen Vorerfahrungen der einzelnen Schülerin oder des einzelnen Schülers an. Dieser erweitert deren subjektiven Kenntnisse und Fertigkeiten, in dem er mathematische Kompetenzen entsprechend der Struktur des Faches aufbaut und dabei gleichzeitig an den individuellen Lernvoraussetzungen, den vielfältigen Lernbedürfnissen und der altersbezogenen Lebensbedeutsamkeit der Schülerin bzw. des Schülers anknüpft. Exemplarische Alltagssituationen von Kindern und Jugendlichen bilden die Grundlage und bieten sinnhafte Ausgangssituationen für das mathematische Lernen. Die vielfältigen Strukturen im Alltag lassen sich durch mathematische Vorgehensweisen wie Ordnen, Vergleichen, Einteilen oder Gliedern sowie durch mathematische Begriffe und Zeichen erfassen und beschreiben. Indem mathematische Probleme in Realsituationen bearbeitet werden, erfahren die Schülerinnen und Schüler Mathematik als nützliches Werkzeug mit vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten im Alltag und einer größtmöglichen gesellschaftlichen und kulturellen Teilhabe. Die Prinzipien der Anwendungsorientierung und der Strukturorientierung bringen die Beziehungshaltigkeit der Mathematik zum Ausdruck. Anwendungsorientierung meint einerseits, dass mathematische Vorerfahrungen aus lebensweltlichen Situationen aufgegriffen und weiterentwickelt werden. Andererseits werden Einsichten über die Realität mithilfe mathematischer Methoden neu gewonnen, erweitert und vertieft. Das Prinzip der Strukturorientierung unterstreicht, dass mathematische Aktivität häufig im Finden, Fortsetzen, Beschreiben und Begründen von Mustern besteht. So trägt der Mathematikunterricht zu einem Verständnis von Mathematik als die Wissenschaft der Muster und Strukturen bei. Muster und Strukturen gelten als fachliches Grundkonzept. Sie verdeutlichen zentrale mathematische Grundideen und sind in allen Inhalten zu finden, z. B. in vielfältigen Zahl- und Formbeziehungen, Gesetz- und Regelmäßigkeiten und Wiederholungen.
Didaktisch-methodische Gestaltung des Unterrichts
Mathematik ist ohne Darstellungen nicht (be-)greifbar. Daher kommt der Darstellung durch die sinnlich-wahrnehmende (basal-perzeptive), aktiv-handelnde (enaktive), bildlich-darstellende (ikonische) und begrifflich-abstrahierende bzw. reflektierende (symbolische) Ebene eine besondere Bedeutung zu. Das E-I-S-Prinzip erfährt hier eine Erweiterung um die basal-perzeptive Aneignungsebene. Ein Wechsel bzw. die Kombination von Lernangeboten innerhalb der einzelnen Aneignungsebenen (intramodaler Transfer) sowie zwischen den verschiedenen Aneignungsebenen (intermodaler Transfer) ist für den Lernprozess wichtig und erleichtert den Zugang zu mathematischen Inhalten. Für den Erwerb eines tiefergehenden Verständnisses der Darstellungsebenen ist die sprachliche Begleitung von mathematischen Handlungen von großer Bedeutung. Jegliche (mathematische) Handlungen sollten durch die Lehrkraft und möglichst durch die Schülerin oder den Schüler mit einfachen Sprachmitteln sowie grundlegenden mathematischen Begriffen sprachlich begleitet werden. Dieses Vorgehen bietet der Schülerin oder dem Schüler die Möglichkeit, durch das Versprachlichen der eigenen Handlungen den mathematischen Zusammenhang zu verinnerlichen. Das handelnde Lernen an konkreten Gegenständen und in lebensweltbezogenen Kontexten unterstützt Schülerinnen und Schüler darin, unmittelbare, direkte Lernerfahrungen zu machen. Die aktive Auseinandersetzung mit Lerninhalten und konkrete Erfahrungen können helfen, abstraktere Denkleistungen anzubahnen.
Beziehungsreiches und materialgestütztes Üben fördert die Vernetzung von Wissen. Es hilft dabei, mathematische Prozesse und Gesetzmäßigkeiten zu verstehen. Mehrere Lösungswege werden zugelassen sowie Fragestellungen auf unterschiedlichem Niveau ermöglicht, um damit einen spiralartigen und kumulativen Kompetenzerwerb zu unterstützen. Angeleitete langfristig angelegte Übungsphasen mit vielfältigen und ergiebigen Aufgabenformaten begünstigen den Kompetenzerwerb.
Fehler sind selbstverständliche Teile des Lernprozesses. Sie sind häufig Konstruktionsversuche auf der Basis vernünftiger Überlegungen und liefern wertvolle Einsichten in die mathematikbezogenen Denkweisen der einzelnen Schülerin oder des einzelnen Schülers. In der wechselseitigen Verständigung und Kooperation darüber bietet dies sowohl eine Chance für die individuelle Entwicklung als auch für die der gesamten Gruppe.
Lehrkräfte sind Vorbilder und Bezugspersonen ihrer Schülerinnen und Schüler und wirken durch ihr eigenes Verhalten positiv auf Lernprozesse ein. Sie sind empathisch und wirken über ihre Persönlichkeit, ihre pädagogischen Einstellungen und ihr Handeln. Sie nehmen die individuelle Entwicklung einer jeden Schülerin oder eines jeden Schülers wertschätzend in den Blick und würdigen auch kleinschrittige Entwicklungsfortschritte. Dabei achten die Lehrkräfte stets die Persönlichkeit ihrer Schülerinnen und Schüler.
Bildungs- und Erziehungsauftrag
Gemäß dem Erziehungs- und Bildungsauftrag im zieldifferenten Bildungsgang Geistige Entwicklung leistet das Aufgabenfeld Mathematik einen Beitrag dazu, den Schülerinnen und Schülern eine aktive gesellschaftliche Teilnahme, sowie Partizipation, persönliche Entfaltung, fachliche Bildung und eine selbstständige Lebensführung zu ermöglichen. Es liegt ein alle Lebensbereiche umfassender Bildungsbegriff zugrunde. Dieser umfasst individuelle entwicklungsrelevante Aspekte und gleichermaßen Aufgabengebiete, die die Teilhabe an der Gesellschaft und somit an kulturell bedeutsamen Bildungsinhalten implizieren. Das Spektrum dieses umfassenden Bildungsbegriffes reicht von voraussetzungslosen elementaren Kompetenzen (u. a. Atmung, sensomotorische Aktivitäten, Muskeltonus, Herzfrequenz, Blick, Mimik) bis hin zu komplexen Kompetenzen in fachlichen und entwicklungsbezogenen Prozessen.
Der Unterricht im zieldifferenten Bildungsgang Geistige Entwicklung ist auf der Grundlage der individuellen Lern- und Entwicklungsplanung (Förderplanung) an den subjektiven Bedürfnissen und Bedarfen der einzelnen Schülerin oder des einzelnen Schülers ausgerichtet. Die fachlichen Inhalte werden auf den Lebensweltbezug für die einzelne Schülerin oder den einzelnen Schüler geprüft. Mit dem Ziel der größtmöglichen aktiven Teilnahme, sowie Partizipation ist individuell der Einsatz Assistiver Technologien zur Kompensation von behinderungsbedingten Einschränkungen zu prüfen.
Die kommunikative Kompetenz ist eine der grundlegenden Kompetenzen. Die Unterstützte Kommunikation stellt ein durchgängiges Prinzip im gesamten Unterricht, im Schulleben und auch außerhalb des Unterrichts dar. Damit wird die kommunikative Kompetenz der Schülerin bzw. des Schülers in allen Bereichen entwickelt und gestärkt.
Im Sinne eines umfassenden Bildungs- und Erziehungsauftrags im zieldifferenten Bildungsgang Geistige Entwicklung ist auch die Pflege bei entsprechenden Bedarfen auf Seiten der Schülerin bzw. des Schülers Bestandteil der pädagogischen Arbeit. Sie wird als Teil des Miteinanders, der Kommunikation, der Unterstützung von Persönlichkeitsentwicklung und damit auch der pädagogischen Verantwortung betrachtet.
Im Rahmen des allgemeinen Bildungs- und Erziehungsauftrags der Schule unterstützt der Unterricht im Aufgabenfeld Mathematik die Entwicklung einer mündigen und sozial verantwortlichen, für ein friedliches und diskriminierungsfreies Zusammenleben einstehenden Persönlichkeit. Das Aufgabenfeld Mathematik leistet weiterhin Beiträge zu fachübergreifenden Querschnittsaufgaben in Schule und Unterricht, hierzu zählen u. a.
Menschenrechtsbildung,
Werteerziehung,
politische Bildung und Demokratieerziehung,
Medienbildung und Bildung für die digitale Welt,
Verbraucherbildung und Bildung für nachhaltige Entwicklung,
geschlechtersensible Bildung,
kulturelle und interkulturelle Bildung.
Verknüpfungen
Die inhaltliche Verknüpfung mit anderen Aufgabenfeldern, Entwicklungsbereichen und anderen Lehrplänen sowie außerschulischem Lernen und inner- und außerschulischen Kooperationen können sowohl zum Erreichen und zur Vertiefung der angestrebten Kompetenzen als auch zur Erfüllung übergreifender Aufgaben beitragen.
Die vorliegenden Unterrichtsvorgaben sind verbindliche Grundlage für den Unterricht im zieldifferenten Bildungsgang Geistige Entwicklung. Sie sind Basis und Ausgangspunkt für die weitere schulspezifische Ausgestaltung, Erweiterung und standortbezogene Spezialisierung. Dabei werden Freiräume für Vertiefung, schuleigene Projekte und die Beachtung aktueller Entwicklungen geboten. Die Umsetzung der verbindlichen curricularen Vorgaben in schuleigene Vorgaben liegt in der Gestaltungsfreiheit - und Gestaltungspflicht - der Fachkonferenzen sowie der pädagogischen Verantwortung der Lehrkräfte. Damit ist der Rahmen geschaffen, gezielt Kompetenzen und Interessen der Schülerinnen und Schüler im zieldifferenten Bildungsgang Geistige Entwicklung aufzugreifen und zu fördern bzw. Ergänzungen der jeweiligen Schule in sinnvoller Erweiterung der Kompetenzen und Inhalte zu ermöglichen.