Lesen und Schreiben verbinden
Lesen und Schreiben wurden seitens der Deutschdidaktik lange Zeit als zwei getrennte Bereiche betrachtet. Mit der Einführung des materialgestützten Schreibens hat sich diese Perspektive geändert und die enge Verbindung von Lesen und Schreiben steht im Fokus der fachdidaktischen Forschung.
Das Lesen eines einzelnen Textes ist bei klassischen Schreibaufgaben wie der Analyse eines literarischen Textes Voraussetzung. Mit der Einführung der Kernlehrpläne Deutsch für die Sekundarstufe I im Jahr 2004 wurde mit dem Aufgabentyp 2 das materialgestützte informierende Schreiben implementiert. Dieses Aufgabenformat umfasst das Lesen mehrerer (kontinuierlicher wie diskontinuierlicher) Texte, auf deren Grundlage dann ein eigener Text verfasst werden soll. Mehrere Texte parallel zu lesen wird auch als polytextuelles Lesen bezeichnet (Köster/Pabst 2017, S. 16). Diese Art des Lesens weist große Ähnlichkeiten zum digitalen Lesen auf. Anders als beim Lesen eines einzelnen Textes stehen Lesende beim polytextuellen Lesen vor der Herausforderung, die Kohärenz zwischen den Texten selbst herzustellen, Verbindungen zu finden und die Bedeutung der einzelnen Texte in ihrem Verbund einzuschätzen. Die Kognitionspsychologie untersucht seit Ende der 1990er-Jahre das polytextuelle Lesen. Das Dokumentenmodell ist eines der ersten und ein prominentes Modell, das die idealtypischen Prozesse beim Lesen von mehreren Texten (Dokumenten) abbildet. Wichtig ist allerdings zu betonen, dass sich das Modell auf das Lesen von kontinuierlichen Texten bezieht.
(Philipp 2019. S. 3. leicht verändert)
Das Dokumentenmodell besteht aus zwei Ebenen. Auf der ersten Ebene entwickeln Lesende ein integriertes mentales Modell aus den Inhalten der Texte. Integrieren bedeutet, dass die Informationen aus den Texten verknüpft, kombiniert und organisiert werden, um Kohärenz zwischen ihnen herzustellen. Voraussetzung dafür ist, dass der Leser oder die Leserin jeden Text für sich verstanden hat. Man braucht also mentale Modelle des Inhalts jedes Textes, um inhaltliche Bezüge und Schnittmengen im integrierten mentalen Modell, das beide Texte umfasst, zu erkennen. Auf der zweiten Ebene bilden Lesende ein Intertextmodell, das auf den Dokumentenknoten basiert. Die Dokumentenknoten umfassen die Metadaten eines Textes wie Autor und dessen Status, Erscheinungsjahr, Veröffentlichungsort, Textsorte, Intention, Adressaten etc. Durch den Vergleich dieser Metadaten und den gleichzeitigen Einbezug der Textinhalte wird die Beziehung der Texte zueinander bestimmt, d.h. widersprechen sich die Texte, ergänzen sie sich, bauen sie aufeinander auf, Text A zitiert Text B, Text A erklärt Text B genauer etc. Dies wird als Intertext-Prädikat bezeichnet. Beim Lesen mehrerer Texte sind also nicht nur die Textinhalte von Bedeutung, sondern auch Informationen über den Kontext des Textes, der ebenfalls von Lesenden rekonstruiert werden muss, um die Informationen aus den Texten mithilfe der Metadaten angemessen interpretieren und beurteilen zu können. Die Prozesse werden unter dem Begriff „Sourcing“ zusammengefasst (Philipp 2018, S. 4). Das Ausbilden eines Dokumentenmodells, das mehrere Texte umfasst, stellt daher eine sehr abstrakte Aufgabe für Lernende dar, die durch die Lehrkraft (auch außerhalb des Aufgabenformats) unterstützt werden kann, indem
- möglichst umfassende Metadaten zu den jeweiligen Texten gegeben werden,
- der Geltungsanspruch eines Textes erläutert wird,
- die Funktion eines Materials innerhalb der Materialsammlung explizit benannt wird.
Aufgabenbeispiele, wie materialgestützt literarisches Wissen erarbeitet werden kann (PDF, 861KB)
Die Aufgaben beziehen sich auf literarische Texte für die SII. Ihr Konstruktionsprinzip lässt sich aber auf die SI übertragen.